Ein Denkanstoß zur Marktwirtschaft

Ein Gedankenspiel, dass ich vor wenigen Jahren mit 81 Jugendlichen durhgeführt habe. Daher ist dieser Beitrag in erster Linie an Schülerinnen und Schüler gerichtet. Er ist für Erwachsene jedoch nicht minder interessant.


Ihr gründet eine Wohngemeinschaft

Stellt euch vor, ihr seid 8 Leute und gründet eine Wohngemeinschaft. Am Tag des Einzugs in die gemeinsame Wohnung steht ein Kuchen auf dem Küchentisch. Ein Zettel vom Vermieter liegt daneben, darauf steht: „Ein Willkommensgruß“. Das ist wunderbar, denn eure Anreise war lang und ihr alle habt den ganzen Tag noch nichts gegessen.

Welche der drei folgenden Möglichkeiten würdet ihr am ehesten befürworten?

1. Der Kuchen gehört uns allen. Einer von uns soll ihn in acht gleichgroße Stücke schneiden und an alle verteilen.

2. Jeder darf sich selbst ein Stück aus dem Kuchen schneiden. Trotzdem sollen alle ein gleichgroßes Stück haben. Wer sich zu viel nimmt, muss den anderen was abgeben.

3. Wir machen einen Wettstreit um den Kuchen. Jeder gegen jeden. Der Gewinner bekommt den Kuchen. Die Verlierer gehen leer aus.

Ich habe diese Umfrage mit 81 von euch durchgeführt. Eure Antworten waren spannend und haben gezeigt, dass ihr euch intensiver mit dieser einfachen Frage auseinandergesetzt habt, als man es zunächst erwarten würde.

Zum Beispiel ist euch wichtig, bei dieser Fragestellung zu wissen, ob ihr acht Leute gute Freunde seid oder ein wild zusammengewürfelter Haufen, der sich untereinander noch fremd ist. Eine andere Frage war, ob es den Kuchen nur einmal gibt oder ob jeden Tag einer spendiert wird, oder etwa gar, ob außer diesem Kuchen nichts anderes im Haus oder in eurem Gepäck ist.

Gehen wir’s mal durch. Grundsätzlich ist nichts anderes im Haus, und ihr habt auch nichts dabei. Das ist die Eingangsbedingung für diesen Test. Wenn ihr alle Freunde wäret, dann entschieden sich 57 für Möglichkeit 1, 24 für Möglichkeit 2 und keiner für Möglichkeit 3. Interessant wird es, wenn ihr euch gegenseitig noch fremd wärt. Dann nämlich entschieden sich 44 für Möglichkeit 1, 35 für Möglichkeit 2 und 2 für Möglichkeit 3.

Das bedeutet also, wenn ihr euch untereinander kennt, ist es für euch okay, auf den einen unter euch zu vertrauen, der den Kuchen verteilt. Unter der Vorgabe, dass ihr acht Leute euch fremd wärt, tendiert ihr immer noch zu mehr Freiheit des Einzelnen, legt aber trotzdem großen Wert auf Gerechtigkeit und das Korrigieren von unfairen Umständen. Kaum jemand von euch aber stimmte für Möglichkeit 3. Wenn es noch was anderes zu Essen gäbe, oder wenn jeden Tag ein Kuchen spendiert würde, dann neigen einige wenige von euch dazu, für diese Lösung zu sprechen.

Nun, damit seid ihr fast alle kleine Kommunisten und Sozialisten. Nicht böse sein, das ist keine Beleidigung, sondern etwas, was durchaus zu erwarten war. Das ist ganz normaler, auf Einfachheit zielender Gerechtigkeitssinn. Was ihr dagegen gar nicht wollt, ist der tägliche Kampf ums Überleben. Aber in genau dieser Welt lebt ihr! Noch geht ihr zur Schule, da merkt ihr das noch nicht so, doch auf der Schussfahrt in die Arena seid ihr schon. Sobald ihr diesen Hort „Schule“ verlasst, wird auch für euch der Wind von vorne wehen, und ihr werdet jeden Tag gegeneinander um den Kuchen kämpfen müssen. Die Erwachsenen nennen das Marktwirtschaft, und sie erzählen euch, dass es dazu keine Alternative gibt. Sie machen euch stark dafür, dass ihr euch nach vorne kämpft, dass ihr versucht, immer die besten zu sein, denn ansonsten würden euch die anderen überholen, und so weiter, ihr kennt das ja. Ihr sollt darum kämpfen, zu den Wohlhabenden zu gehören, denn wenn ihr das nicht schafft, werden ihr zu den Armen gehören, und das wäre eine Schande, denn unter den Armen und Mittellosen zu landen, das würde ja bedeuten, dass ihr entweder zu faul oder zu dumm gewesen wart. Stimmt’s? Ist doch so, oder? Ich meine, klar, ihr wollt das eigentlich gar nicht. Euch wäre es auch lieber wenn die Welt für alle gerecht und fair wäre, haben wir ja gerade gesehen. Ihr habt eben keine Wahl; die Welt ist nun mal so, richtig? Ein Sprecher der Deutschen Bank hat selber noch gesagt, dass die Menschen in Somalia selbst schuld an ihrer Armut sind. Na, wenn der das schon sagt, so ein seriöser erfolgreicher Mann mit Anzug und Krawatte, der muss es doch wissen, oder? Schließlich ist er ein Experte! Was weiß so ein somalischer Bauer schon von Finanzen und BWL? Der hat doch keine Ahnung, der faule Dummkopf, nicht wahr?

Okay, jetzt weiter ohne Sarkasmus. Kennt ihr eigentlich den Spruch „Einer muss verlieren wenn der andere gewinnt“? Was, wenn zwei Gegner gleich gut sind und die Frage nach dem Gewinner erst im Stechen geklärt wird? Richtig, dann verliert einer, der eigentlich richtig gut ist. Es ist tatsächlich möglich, richtig gut zu sein und trotzdem zu verlieren. Selbst wenn alle Menschen gleich fleißig und gleich klug sind, können sie nicht alle zu den Gewinnern gehören. Denn um Gewinner zu haben, braucht es auch Verlierer. Jeder Mensch kann reich werden, aber niemals alle zusammen. Für jeden Reichen muss es viele Arme geben, die seinen Reichtum ermöglichen. Denn jeder Gewinn ist der Verlust von anderen.

Ihr müsst kämpfen, um euren Wohlstand zu erreichen, und ihr müsst kämpfen, um ihn zu erhalten. Für euren Arbeitsplatz und eure Firma gilt dasselbe. Der Wettbewerb hört niemals auf. Lasst ihr nach, kommen andere, die es euch wegnehmen. Ihr merkt jetzt bereits, wie knapp eure Freizeit ist, und ihr werdet bald merken, dass ihr immer weniger Geld haben werdet, um sie zu gestalten. Ihr werdet für das Wirtschaftswachstum schuften, das nur dazu da ist, die Zinsforderungen der superreichen Gelderschaffer zu erfüllen, und von Jahr zu Jahr werdet ihr immer mehr arbeiten müssen und immer weniger dafür bekommen, um das System aufrecht zu erhalten.

Wir alle sind in einer Situation gelandet, in der wenige Reiche immer schneller noch reicher werden und immer mehr Arme immer schneller noch ärmer werden. Wir haben eben gesehen, dass ihr das gar nicht wollt. Also lasst euch nicht einlullen von den Verfechtern des Turbokapitalismus! Lasst euch nicht reinziehen in dieses unbarmherzige, ausbeuterische System, in dem die meisten von euch zwangsläufig eh zu den Verlierern gehören werden. Beim Monopoly kann immer nur einer gewinnen. Ihr wollt doch nicht um euer Leben spielen! Öffnet euch stattdessen für die anderen Möglichkeiten. Es gibt sie! Studiert sie, begreift sie, und setzt euch für sie ein. Geld und Güter sind genug da. Es reicht für alle. Genau wie der Kuchen. Ihr wollt ja, dass er gerecht aufgeteilt wird. Sorgt dafür! Macht es besser als eure Vorgänger! Denn wenn ihr es nicht macht, seid ihr die Generation, die am meisten drunter leiden wird.